Elfengesang

 

 

 

 

 

 

 

Der Tag, an dem diese Geschichte ihren Anfang nahm, war ein schöner Tag. Der Schönste, in einem ansonsten durchwachsenen Jahr. Der herrliche Gesang einer glockenhellen Stimme hallte über die Lichtung und erfüllte sie bis in den letzten Winkel.

Vorsichtig duckte sich Robert tiefer in den Schatten der Sträucher, hinter denen er sich seit einer geraumen Weile verbarg. Robert war ein einfacher Hirte und wären ihm an diesem Tag nicht zwei Schaffe entlaufen, wäre sein Leben sicher ein anderes gewesen. Er war groß und drahtig, hatte dunkles dichtes Haar und einen Bart. Man sah ihm an, dass er wusste, was harte Arbeit war.

Seine Kleidung war funktional. Sie schützte ihn vor den eisigen Winden, die hier regelmäßig im Herbst herrschten. Auf der Suche nach den beiden Ausreißern hatte er plötzlich den Gesang vernommen und war ihm bis hierher gefolgt. Interessiert beobachtete er nun, was sich da vor ihm abspielte. Dabei wagte er es kaum, seinen eigenen Augen zu trauen. Denn was er dort auf der Lichtung sah, konnte unmöglich wahr sein. Er musste träumen.

Nicht weit von ihm entfernt, befand sich eine sprudelnde Quelle. Sie war ihm nicht unbekannt, kam er doch seit Kindertagen immer wieder hierher. Aber heute war etwas anders.

Eine kleine zierliche Gestalt saß an dem felsigen Ufer der Quelle. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, doch Robert wusste, dass sie die begnadete Sängerin war, deren Gesang er gefolgt war. Ihre Füße baumelten spielerisch im Wasser, während sie mit den Händen liebevoll über die Wasseroberfläche strich. Schon setzte sie zu einer weiteren Strophe an.

 

 »Oh du einsamer Wandersmann. Komm zu mir. Trau dich heran. 

Hab noch keinem Menschen was getan. 

Singe hier, so ganz allein,

an dieser einsamen Quelle mein.

Komm nur heran.

Oh du einsamer Wandersmann«

 

Begleitet wurden sie von fröhlichem Vogelgezwitscher und dem Zirpen der Grillen. Das sachte Plätschern des Quellwassers umrahmte den Gesang, wurde ein Teil von ihm. Die Melodie fraß sich in seinen Kopf, während er wie gebannt die liebreizende Sängerin musterte.

Unzählige Schmetterlinge umspielten sie. Mehr als er jemals zuvor auf einem Flecken gesehen. Wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, flogen sie in fließenden Bewegungen umher und veränderten dabei eines ums andere Mal ihre Formation. Während sie spielerisch im Licht der Sonne tanzten, wechselten ihre Farben. Oder täuschte er sich? Verwundert ließ Robert seinen Blick zurück zur Sängerin gleiten.

Sie selbst war eine Gestalt wie aus uralten Märchen und längst vergessenen Legenden. Denn obwohl sie die Statur eines zierlichen kleinen Mädchens hatte, so war das lange Haar silbergrau. Einige Strähnen hatte sie sich hinter die ungewöhnlich spitzzulaufenden Ohren gesteckt. Der weit größere Teil ihres Haares rankte sich jedoch um das Geweih, welches ihren Kopf zierte. Sprachlos starte Robert sie an. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Ein luftiges Kleid bedeckte ihren zierlichen Körper, ohne dabei die anmutige Gestalt darunter zu verbergen. Der Wind schien sich in dem Stoff verfangen zu haben, denn es wehte immer ein wenig umher. Selbst auf die Entfernung konnte Robert erkennen, dass es aus keinem Material bestand, das er kannte.

Als hätte sie seine Musterung bemerkt, drehte sich die Gestalt herum und warf ihm einen Blick zu. Erschrocken hielt Robert den Atem an. Sie konnte ihn nicht sehen, das war unmöglich! Aber was wenn doch?, fragte er sich besorgt. Etwas lag in ihrem Blick. Selbst auf die Entfernung konnte er die sonderbare Ruhelosigkeit erkennen, die in ihren blaufarbenen Augen tobte.

 

 »Nun bist du da,

 schon ganz nah.

 Versteckst dich in des Waldes Schatten ...«

 

Mitten im Satz brach der Gesang ab und belustigtes Kichern erklang.

 »Warum kommst du nicht aus deinem Versteck? Gesell dich zu mir - oder traust du dich nicht?«, fragte sie neckend. Ihre Stimme war so süß wie Honig und zugleich so lieblich und betörend wie Wein. Kurz gesagt sie raubte ihm binnen eines Augenblicks jeden Funken, klaren Verstandes.

Einen Moment verharrte er ratlos, dann erhob er sich, als er einsah, dass es sinnlos geworden war, sich weiter verbergen zu wollen. Sie wusste, dass er da war. Vorsichtig löste er sich aus seinem Versteck und trat so selbstsicher wie möglich auf die Lichtung hinaus. Während er sich ihr näherte, musterte er sie noch einmal genauer. Ihre Haut war so hell und ebenmäßig wie Porzellan - was ihre Augen nur umso mehr betonte. Sie waren von dem merkwürdigsten Blau, das er je gesehen hatte. Es war wie der Ozean und der Himmel zugleich. In ihrem Blick tobten ein unbändiger Sturm und unbezwingbare Gezeiten. Nichts hielt ihrem Blick stand. Und noch etwas fiel ihm auf. Sie war von zeitloser Schönheit. Während er sie betrachtete, da wusste er, dass diese wunderschönen - unergründlichen - Augen bereits Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende gesehen hatten. Von ihrem Standpunkt aus konnte er nicht mehr als ein unwissendes Kind sein.

»Wer ... Was bist du?«, brachte er mit belegter Stimme hervor. Er hörte selbst, wie unsicher seine Stimme klang.

»Ich bin Lirana«, erklärte sie, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Dann sprang sie unvermittelt auf und stürmte ihm entgegen. Für den Bruchteil einer Sekunde drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange und hauchte folgende Worte in sein Ohr: »Fang mich, wenn du kannst. Folge mir und ich werde dir Dinge zeigen, von denen du nicht einmal zu träumen wagtest. Vertraue mir, denn ich werde dich an deinem Verstand zweifeln lassen - und wenn du nicht stark genug bist, dann wirst du ihn verlieren. Aber wäre der Preis das Risiko nicht wert?« Trotz der unüberhörbaren Warnung klangen ihre Worte wie ein süßes Versprechen. Verheißungsvoll lächelnd wandte sie sich um und rannte davon.

Von der irrationalen Panik erfüllt, sie aus den Augen zu verlieren, hastete Robert ihr nach und holte nach einiger Zeit schließlich auf. Er rannte so ausgelassen durch den Wald, als wäre er wieder ein kleines Kind. Alle Sorgen fielen von ihm ab und er bemerkte nicht einmal, wie sich der Tag neigte und die Nacht heraufzog. Eine Nacht, die nie mehr enden wollte.

Er rannte einfach immer weiter, folgte ihr, ohne jemals müde zu werden, bis sie den Wald verließen und abermals auf eine gewaltige Lichtung gelangten. Ein kleiner Teich lag vor ihnen. Dort hielten sie an.

Ein großer Mond stand strahlend am Himmel. Er wirkte größer als sonst und sein Licht war heller, wie Robert es gewohnt war. Dafür wirkte die angrenzenden Schatten umso tiefer. Als würde sich dort etwas verbergen. Die Sterne, die er sehen konnte, waren zahlreicher und fremd.

»Wo sind wir?«, wollte er verwundert wissen.

»Wir sind im Feenreich!« Erneut schwang in ihrer Stimme ein sachter Unterton mit, der ihn erahnen ließ, dass er nicht die klügsten Fragen stellte. Ohne auf ihn zu achten, ging sie zum Rand des Teiches. Völlig ungeniert ließ sie ihr Kleid von den Schultern rutschen und sprang ins Wasser. Eine Zeit lang planschte sie dort herum wie ein Kind, das keine größere Freude, als das Spielen um des Spielens willen kannte.

Zum Schluss fing sie mit bloßen Händen einen Fisch. Dieser zappelte und wandt sich in ihrem Griff, aber er kam nicht frei. Zufrieden stieg sie aus dem Wasser. Robert überlegte gerade, wie er Feuer machen konnte, um den Fisch zu braten - da biss sie dem Fisch genussvoll den Kopf ab und spuckte ihn fort. Anschließend verspeiste sie den Fisch, so wie er war ...

Was danach geschah, konnte er nicht mehr genau sagen ... Es gab kein Gestern, Heute oder Morgen ... Die Zeit ... alles verschwamm. Robert fühlte sich wie in einem fiebrigen Wachtraum. Mal waren sie auf der Lichtung, mal woanders - ohne das er überhaupt sagen konnte, wie sie dorthin gekommen waren. Es war, als hätte seine Erinnerung mit einem Mal gewaltige Lücken, die sich nicht schließen ließen - egal wie angestrengt er es auch versuchte. Nur bruchstückhaft gelangte hin und wieder etwas an die Oberfläche seines Bewusstseins.

 

... Einmal befanden sie sich in einem kleinen Hain und Lirana strich mit ihren Händen über die fleckige Rinde eines alten kranken Baumes. Die Fäule hatte ihn befallen. Seine Äste waren kraftlos und morsch. Doch wo Lirana ihn berührte, kehrte das Leben in ihn zurück und breitete sich aus. Glücklich tanzte sie daraufhin im Mondlicht und fing ein paar der reflektierten Sonnenstrahlen ein. Als wäre es das Natürlichste auf der Welt, band sie sich einige davon ins Haar ...

  

... später, oder war es zuvor gewesen? Griff sie nach den lodernden Flammen eines Feuers und formte sie zu einer kleinen Kugel, die sie ihm schenkte. Obwohl die Kugel in Flammen zu stehen schien, lag sie doch angenehm kühl in seinen Händen. Dazu flocht sie ihm eine Kette aus Wurzeln und einer einzelnen Strähne ihres silbernen Haares. Daran befestigte sie die Feuerkugel. Er sollte sie immer am Herzen tragen, dann würde sie ihn beschützen ...

 

Ein anderes Mal, war Roberts Kopf ungewohnt klar ... sachte Nebelschwaden sammelten sich im fahlen Mondlicht. Wurde es hier denn niemals Tag? Verging die Zeit überhaupt?, fragte er sich. Der Mond schien sich keinen deut bewegt zu haben, seit er hier war. Wie lange war er denn schon hier? Ihm kam es vor, wie ein Augenblick, doch das konnte nicht sein. Dazu hatte er zu viel erlebt. Also wie lange? Tage, Wochen oder gar Monate? Er wusste er nicht. Und zum ersten Mal seit er hier war, empfand er so etwas wie Furcht. Was wenn er sich hier verlor? Hatte Lirana ihn nicht genau davor gewarnt? Im nächsten Moment wurde sein Verstand davongefegt ...

 

... nun wälzten sie sich durchs Gras, das sich weicher als jedes Bett in seiner Welt anfühlte. Er spürte ihren Körper unter seinem, während sie sich liebten. Sie taten es nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal so. Bisher war es immer ein Spiel gewesen. Dieses Mal war es gieriger. Fordernd presste sie sich an ihn, drückte ihre Lippen auf seine ... Es war so intensiv. Er nahm alles wahr.

Die glatte Ebenmäßigkeit ihrer hellen Haut.

Ihren warmen Atem auf seiner Haut.

Die zarte Berührung ihrer Finger, die rasch über seinen Körper huschten.

Das Kitzeln ihres Haares. Und ihren Geruch.

 ie roch nach frischem Gras und dem ersten Frühlingsregen. Und zugleich duftete sie sinnlich wie ein bunter Herbsttag bei Sonnenschein. Wie eine frische Brise an einem heißen Tag und wie der erste Schnee im Winter.

Als es schließlich endete, lag er um atemringend am Boden und sein Verstand kehrte abermals zurück. Klarer als je zuvor. Vorsichtig stellte er die Frage, die ihm mit einen Mal brennend auf der Zunge lag.

 »Wirst du mich gehen lassen, sollte ich gehen wollen?«, fragte er, während er auf dem weichen Moosboden lag und den Himmel über sich musterte. Er spürte die Wärme ihres Körpers neben sich.

 »Natürlich, wenn du es willst«, antwortete sie, »wir sind keine Ungeheuer, und ich habe dich nicht hergelockt, um dich zu fressen«.

 »Wie lange bin ich schon hier?«, wagte er sich weiter vor.

 »Ist das denn wichtig?«, entgegnete sie. Sie sah ihn dabei an, als hätte er eine ausgesprochene dumme Frage gestellt.

 »Es war kein Zufall, dass wir uns damals an der Quelle trafen, oder?«, vermutete er.

 »Nein. Ich hatte dich schon eine Zeit lang beobachtet«,gab sie unumwunden zu.

 »Warum?«, wollte er wissen. Was konnte sie dazu bewegt haben, ausgerechnet ihn zu beobachten?

 »Weil du mich interessiert hast! Du warst anders als die anderen - bist es immer noch. Alle vor dir haben den Verstand verloren. Diese - meine - Welt narrt eure Sinne und verwirrt euren Verstand. Es wäre euer Tod, wenn es nicht so wäre«, sagte sie mit einer Überzeugung, die ihn jede weitere Frage vergessen ließ.

 »Gibt es noch andere wie dich? In unseren Geschichten wimmelt es nur so von Elfen, Feen und dergleichen mehr. Es gibt bei uns eine Legende über den dunklen Herrscher des Feenreiches. Wir nennen ihn Farunier«, erzählte Robert.

 Erschrocken starrte sie ihn an, dann verpasste sie ihm beiläufig eine Ohrfeige, die ihn quer über die ganze Lichtung fliegen ließ, bis ein Baum ihn bremste und er gnädigerweise das Bewusstsein verlor.

Als er wieder zu sich kam, ruhte sein Kopf in Liranas Schoß. Besorgt sah sie auf ihn herab, während sie ihm zärtlich über den Kopf strich. Zum ersten Mal seit er sie kannte, wirkte sie bedrückt.

»Psst - sprich nicht über ihn und nenne niemals wieder seinen Namen! Er spürt es und es lockt ihn an«, Angst schwang in ihrer Stimme mit. Sie zitterte.

Angespanntes Schweigen legte sich über die Lichtung. Alle Geräusche verstummten. Das fahle Mondlicht verblasste, Dunkelheit legte sich über sie und der Wind frischte spürbar auf. Innerhalb weniger Augenblicke war es eiskalt geworden. Robert zitterte am ganzen Körper, während sie ausharrten, ohne nur einen Mucks von sich zu geben. Ohne das Robert es sich erklären konnte - so spürte er doch, dass sich ihnen etwas näherte ... und ... vorbeizog.

Nach Augenblicken, die sich wie Ewigkeiten anfühlten, sagte Lirana: »Das war knapp. Sprich seinen Namen nie wieder aus, es sei denn, du willst, dass wir eines schrecklichen Todes sterben«. Sie sprach diese Worte frei von Tadel. Es war, als erkläre sie einem Kind, dass man gewisse Dinge nicht tat. Das hielt ihm seine Hilflosigkeit vor Augen und zeigte ihm, wie unterschiedlich sie doch waren. »Gräme dich nicht. Du wirst noch viel lernen!«, meinte sie mit einem zuversichtlichen Lächeln. Langsam beugte sie sich zu ihm und küsste ihn.

Doch Roberts Zeit im Feenreich lief bereits ab. Farunier wusste um seine Anwesenheit und war auf der Suche nach ihm. Eine Zeit lang gelang es Lirana noch, Robert zu verbergen, doch auch das wurde zu gefährlich. Farunier kam ihnen immer wieder bedrohlich nahe. Und letztendlich gab er nur einen Ausweg. Robert musste das Feenreich verlassen. Und das ohne Lirana, denn sie konnte ihm nicht folgen. Sie würde sterben, bliebe sie länger, als einen Tag in seiner Welt.

Als er sagte, dass er lieber sterben wollte, als sie zu verlassen - verbannte sie ihn. Erzürnt darüber, dass er es wagte, sich ihren Worten zu widersetzen, stieß sie ihn von sich. Robert stolperte zurück und wurden von einem wilden Sturm erfasst ... dann verlor er das Bewusstsein ...

 

... Robert saß an der Quelle in der Menschenwelt - wie er es seit Jahren tat.

Wie jeden Tag seit seiner Trennung von Lirana wartete er hier vergeblich auf sie. Manchmal glaubte er, ihre Anwesenheit zu spüren. Verborgen vor seinen Blicken musterte sie ihn. Beobachtete ihn, ohne sich je zu zeigen.

Aus müdegewordenen Augen starrte er auf das Wasser und dachte nach. Die Welt veränderte sich. Es gab keinen Platz mehr für Magie. Selbst die Träume würden irgendwann sterben, davon war er überzeugt und es stimmte ihn traurig. Fahrig griff er an seinen Hals und zog die Kette hervor, die er noch immer trug.

Nach einem Augenblick ließ er sie achtlos ins Wasser fallen und sah zu, wie sie versank. Mühsam zog er sich an seinem Hirtenstab in die Höhe und ging langsam schlurfend davon. Es war ein Abschied, er würde nicht mehr wiederkommen. Das Alter nagte an ihm. Bald schon würde ihn der Tod ereilen. Er spürte ihn bereits in jedem Atemzug.

Während er davonging, erklang in der Ferne, unhörbar für seine Ohren, wehmütiger Elfengesang.