Verlorene Gefühle
-
Cyborg
In Selbstmitleid versunken lag er in der Dunkelheit. Tief greifender Kummer umwölkte sein Herz und ließ ihn frösteln. Dass er nicht wusste, wo er sich befand, war ihm dabei herzlich egal. Es war viel einfacher sich im Selbstmitleid zu ertränken. Willig gab er sich dieser Aufgabe voll und ganz hin. Denn alles war besser, als dieser Haufen Dreck, der sich sein Leben nannte. Womit hatte er das verdient?
Mit einer fahrigen Bewegung griff er sich an die Brust, die sich in letzter Zeit schmerzhaft beengt anfühlte. Als würde eine unschichtbare Last sie erbarmungslos zusammendrücken. Und es wurde beständig schlimmer, obwohl es hieß, die Zeit heile alle Wunden. Pah, was für ein Schwachsinn, die Zeit war ein großer Gleichmacher. Am Ende streckte sie jeden nieder. Nicht mehr und nicht weniger.
Im nächsten Moment zog sich sein Herz gepeinigt zusammen, als wolle es ihn für diese Gedanken tadelt. Oder so, als würde jemand den imaginären blutigen Dolch, der darin steckte, nun auch noch herumgedreht. Ganz langsam. Hatte er schon erwähnt, dass er sich hundeelend fühlte?
War er etwa dazu verdammt immer und immer wieder, dasselbe Schicksal zu erleiden? Würde es nie enden? Jedes Mal, wenn er dachte, es überstanden zu haben - jedes Mal, wenn er sich schwor derart tiefe Gefühle nicht mehr zuzulassen ... passierte es doch. Und jedes Mal war es am Ende dasselbe Lied. Er blieb allein zurück. Geplagt von diesem einzigartigen bittersüßen Kummer, der einen mit einem blutenden Herzen zurücklässt. Dazu verdammt nachts schweißgebadet und mit rasendem Puls aufzuschrecken, um sich sogleich seiner unumstößlichen und kaum überwindbaren Hilflosigkeit bewusst zu werden. Denn gegen das, was ihn quälte, vermochte er nichts das Geringste auszurichten. Benommen fragte er sich, womit er den Zorn der Götter auf sich gezogen hatte. Denn nur so konnte er sich diese unerbittliche Strafe erklären. Oder warum sonst tat man ihm das an?
Er war es leid. Er zahlte den Preis für etwas, dass er nie erhielt. Die einzige Konstante in seinem Leben war die Einsamkeit. Hatte er es nicht verdient geliebt zu werden? Oder war er es einfach nicht wert? War es ein Fehler, dass er es wagte, von ganzem Herzen zu lieben - ein Mangel, der wie es schien, so abschreckend war, dass er immer wieder zurückgewiesen wurde.
Er fühlte sich allein - nein er fühlte ich nicht nur so - er war allein. Gefangen in einem Zustand, der kein Entkommen zuließ. Er fühlte sich leer. Und es gab nichts, dass diese Leere in seinem Inneren verdrängen oder gar ausfüllen konnte. Als wäre da ein großes schwarzes Loch, das alles verschlang ... Manchmal hatte er das deutliche Gefühl auf einen Abgrund zuzugleiten. Er konnte ihn sogar schon sehen und doch war er nicht in der Lage etwas dagegen zu tun. Er verlangte ihm auch gar nicht danach. Warum auch? Warum sollte er sich bremsen? Gab es doch in diesem Leben anscheinend nichts für ihn außer Kummer und Leid. Und das war noch nicht alles.
Seit einiger Zeit fühlte er sich verbraucht. Alt - viel älter als er eigentlich war. Als hätte er sein Leben schon gelebt und würde nun nur noch auf das Ende warten. Seine Kräfte schwanden, jeden Tag verließen sie ihn ein wenig mehr. Bald würde er nur noch ein Schatten seiner selbst sein. Er spürte es. Er dümpelte nur noch so vor sich her. Leben konnte man dies beim besten Willen nicht mehr nennen.
All dies quälte ihn, peinigte ihn mit geradezu unvorstellbarer Qual, die ihn innerlich zu zerreißen drohte. Niemand verstand seine Pein. Kaum einer ahnte etwas davon, trug er doch nach außen hin seine gewohnte Maske, die stets zuversichtlich lächelte. Was wenn es immer so sein würde? Welchen Sinn hatte das Leben dann überhaupt? Lohnte es sich weiterzumachen?
Plötzlich wühlte sich ein dumpfer Schmerz durch seine Brust und verdrängte damit die beengende Leere. Es fühlte sich so an, als ob jemand gerade dabei wäre, ihm sein Herz bei lebendigem Leib herauszureißen. Ein nur allzu vertrautes Gefühl. Die Frau - natürlich war es eine Frau, wer sonst war in der Lage einem Mann derartige Pein zu bereiten - die Auslöser für all dies war, ahnte nichts davon. Oder zumindest tat sie so, als würde sie nichts davon wissen.
Glaubte sie, es ihm dadurch leichter zu machen? Dachte sie, er könne seine Gefühle einfach so abstellen? So tun als wäre nie etwas gewesen - als hätte er nie etwas für sie empfunden? Nun bald würde es so sein. Als eine weitere Welle aus Schmerz ihn durchzuckte, sah er qualvoll in Richtung seiner Brust. Überrascht stellte er fest, dass dort wirklich ein Loch war. Und dann erinnerte er sich.
Er hatte sich freiwillig für ein Experiment gemeldet. Schlimmer noch, er hatte sich freiwillig in die Hände jener Menschen begeben, die er normalerweise bekämpfte. Aber es war nun einmal, wie es war und ironischerweise hatten nur seine Gegner ihm geben können, was er sich wünschte. Das Experiment hatte den eindrucksvollen Namen Cyborg. Es sollte getestet werden, ob die Wissenschaft nun endgültig in der Lage war einen Menschen mit einem Generator und nicht mit einem Herzen anzutreiben. Natürlich hatten sie dafür mehr entnehmen müssen als nur sein Herz. Vage erinnerte er sich an etliche - allesamt durch und durch schmerzhafte - Operationen. Und doch erschien ihm keine so schlimm wie dieser letzte Schritt. Ein letztes forderndes Zerren malträtierte seine Brust ... dann nichts mehr ...
Alles, was er je gefühlt hatte, war fort - nur noch wie eine Erinnerung. Nein wie der Schatten einer Erinnerung! Ein Hauch, der langsam verblasste. Nur der Schmerz, die Enttäuschungen seines Lebens hallten noch eine Weile in ihm nach. Als wollten sie ihm beweisen, dass er ihnen nicht einmal durch diesen drastischen Schritt entfliehen konnte. Letztendlich aber erlosch auch dies. Dann erinnerte er sich nicht einmal mehr daran, wie es war zu fühlen.
Die Maschinen, die diese Operation an ihm ausführten, fingen an, die Spuren ihrer Arbeit zu verwischen. Ein unheilvolles Zischen erklang, dann spürte er sengendes Feuer, das sich durch seine Brust fraß ... und dann wurde es schwarz um ihn herum. Er versank in einem endlosen Nichts ...
... als er wieder erwachte, fühlte er sich fit. Ohne auf eine Anordnung zu warten, versucht er aufzustehen und es gelang. Er hatte keine Schmerzen mehr. Nichts schränkte ihn ein. Als hätte er sich nie dieser großen und schmerzhaften Operation unterzogen.
Irgendjemand oder etwas hatte seine Aktivität registriert, denn nun wurden Bilder auf eine Projektorwand vor ihm projiziert. Sie zeigten Szenen seines früheren Lebens. Seltsam das ihm all dies einmal wichtig gewesen war. War es doch ohne jegliche logische Bedeutung. Er sah Freunde, Familienfeste und Ausflüge. Das letzte Bild zeigte eine junge hübsche Frau, die ihm keck zulächelte. Er kannte sie. Wusste, wer sie war. Doch er fühlte nichts.
Es hatte funktioniert. (Hätte er noch in irgendeiner Art und Weise frohlocken können, so hätte er es jetzt getan).
Der Schmerz war fort. Für immer.
Es war unglaublich. Nichts schränkte sein klares Denken noch ein. Sämtliche Irrationalität war aus ihm getilgt worden. Vollkommen nüchtern konnte er die Tatsache betrachten, dass er diese Frau unsterblich geliebt hatte und das sie ihn gerade aus diesem Grund so ungeheuerlich verletzt hatte. In einer Reihe aus Fehlschlägen war letztendlich sie es gewesen, die ihm unwiderruflich das Herz gebrochen hatte. Das Zünglein an der Waage. Gerade als er wieder zu hoffen angefangen hatte. Was gab es Grausameres als einem Menschen, der schon beinahe gebrochen war, ein letztes Mal die Hoffnung zu zeigen? Sie ihn ein letztes Mal erahnen lassen, bevor man ihm den Todesstoß versetzte. Das war die Grausamkeit des Schicksals. Ironie in ihrer reinsten Form. Oder womöglich einfach nur Willkür.
Völlig emotionslos erfasste er, dass gerade diejenigen Menschen, die wir lieben - denen wir bedingungslos vertrauen, am ehesten in der Lage waren uns am schmerzlichsten zu verletzen. Denn sie kannten unseren wunden Punkt. Unsere Schwachstellen. Und obwohl er all dies mit vollkommener Sicherheit wusste, so fühlte er doch nichts dabei.
Er war frei.
Nun erst sah er sich im Zimmer um. Er befand sich nicht mehr im OP. Natürlich nicht. Stattdessen hatte man ihn in ein komfortables Krankenzimmer gelegt. Die Wissenschaftler hatten von vornherein klargemacht, dass es ihm an nichts mangeln würde, sollte er sich für dieses Experiment bereit erklären. Wie es aussah, standen sie zu ihrem Wort. Er war nicht sicher, was er davon halten sollte. Langsam stand er auf und wandte sich in Richtung der Zimmertüre. Es war Zeit zu gehen. Sein neues Leben zu leben.
Er hatte die Klinke schon halb heruntergedrückt, als er eine leise Stimme in seinem Kopf vernahm.
»Cyborg höre deinen Auftrag.«
Ein Stromimpuls schoss durch seinen Körper, nahm ihm die Kontrolle ... und zwang ihn zu gehorchen. Mit völliger Klarheit begriff er, dass er einen Fehler begangen, hatte. Er hatte den falschen Leuten vertraut. Sie hatten ihn nicht befreit - Sie hatten einen vollkommenen Sklaven aus ihm gemacht. Dazu erschaffen, um ihnen zu dienen. Und er hatte sich bereitwillig in ihre Fänge begeben.
Mit der Präzision einer Maschine - die er nun zum Teil ja auch war - erkannte er, wozu sie ihn erschaffen hatten. Es war nicht schwer. Er war schneller, stärker und wandelbarer als jeder andere Mensch. Sie hatten ihn erschaffen, um zu töten.
Eigentlich sollte ihn diese Erkenntnis erschrecken, doch das tat es nicht. Wie auch? So etwas irrationales wie Gefühle besaß er nicht mehr ...
... Wochen vergingen.
Er tat wie ihm geheißen und stellte keine Befehle infrage. Wenn ihm befohlen wurde zu töten, dann tötete er. Egal wenn, egal wann, egal wo. Früher hätte es ihn erschüttert, mit welcher kalten Brutalität er dabei vorging - heute war es nur eine Folge logischer Abläufe in seinem Gehirn.
Er tat, was ihm aufgetragen wurde. So einfach war das.
Was kümmerte ihn die Rebellion? Was interessierte es ihn, dass er einmal dazugehört hatte?
Es machte ihm nicht einmal etwas aus.
Nur manchmal kam es ihm so vor, als bemerke er in sich ein leichtes Bedauern. So als erinnere sich etwas tief in ihm, dass er einmal fähig gewesen war, dieses Gefühl zu empfinden. Doch es war zu schwach ...
... Bis er an einen Gegner geriet, der ihn besiegte. Irgendjemand hatte einen neuen Roboter erschaffen. Kein Mischwesen wie ihn. Vermutlich waren es dieselben gewesen, die ihn erschaffen hatten und dies war der eigentliche Versuch gewesen, überlegte er mit teilnahmsloser Perfektion. Sie hatten herausfinden wollen, wer siegte, wenn sie Cyborg gegen Maschine antreten ließen. Und nun hatten sie ihre Antwort. Von einem Moment auf den anderen war er überflüssig geworden.
Verletzt lag er am Boden. Die Technik in seinem Inneren war zerstört, denn er hatte bis zur letzten Sekunde ohne Rücksicht gekämpft. Nur noch der schwächer werdende Generator hielt ihn am Leben. Die Frage war für wie lange noch!
Selbst jetzt, da er das Ende kommen sah, blieb er vollkommen ruhig.
Schritte näherten sich vorsichtig. Jemand kam näher. Ein Mensch.
Langsam erschien das Gesicht einer Frau in seinem Gesichtsfeld. Behutsam wagte sie sich näher.
»Keine Angst ich tu dir nichts. Deine Peiniger sind fort«, erklärte sie gehetzt. »Willst du dein Herz wieder haben?«, fragte sie mit betroffen wirkendem Gesichtsausdruck. Was sie sah, schien sie zu entsetzen.
So klar und deutlich wie immer erinnerte er sich an sie. Wegen ihr war er geworden, was er war. Dennoch nickte er.
»Wir müssen es allerdings gleich hier und jetzt tun«, stellte sie fest, »uns rinnt die Zeit davon.« Abermals nickte er.
»Es wird wehtun!«, warnte sie ihn. Ehrliche Trauer spiegelte sich in ihrem Blick wieder. Er konnte es deutlich erkennen. Stumm sah er ihr fest in die Augen. Einem Moment hielt sie seinem Blick stand, dann zog sie ein Messer - ein Messer!! - hervor und öffnete ohne ein weiteres Wort seinen Brustkorb. Der Schmerz setzte augenblicklich ein und war unbeschreiblich.
Die ganze Zeit betrachtete er ihr wunderschönes Gesicht und blendete so einen Teil des Schmerzes aus. Sie hatte sich kaum verändert, sah noch genauso aus, wie in seiner Erinnerung.
Nachdenklich betrachtete er ihre nur allzu bekannten Gesichtszüge genauer. Sie schien nicht zu genießen, was sie da tat. Doch sie schrak auch nicht davor zurück. So sah ein Mensch aus, der tat, was getan werden musste. Allerdings sah er die kleine einsame Träne die ihr still und heimlich über das Gesicht ran. Und die ihm verriet, wie es wirklich in ihr aussah.
Seltsamerweise erfüllte gerade dieser Anblick ihn mit einer tiefen inneren Wärme. Und dass obwohl sein Herz noch nicht wieder eingesetzt war. War das möglich? Konnte er noch ein klein wenig fühlen? Wie?
Ein sachtes Brennen - nicht einmal wirklich unangenehm - breitete sich in seiner Brust aus. Benommen erkannte er, wie die Frau immer besorgter auf ihn herabblickte. In ihrem Blick lag eine tiefe innere Pein. Hoffnungslosigkeit.
Dieselbe Hoffnungslosigkeit, die er zuletzt wegen ihr verspürt hatte. Es war das Gefühl jemanden zu verlieren und nichts dagegen tun zu können, weil keine Kraft der Welt ihn halten konnte. Ihr Blick hätte ihm eine Warnung sein müssen, doch er war so benommen, sodass er es erst in dem Augenblick spürte, indem es geschah. Etwas ging schief.
Doch es war ihm egal. In dem Bruchteil der Sekunde, bevor er starb - fühlte er.
Wie eine Welle brachen die Gefühle über ihn herein und überwältigten ihn. Sie rissen ihn mit sich. Er hätte geweint, hätten ihm die Wissenschaftler nicht seine Tränenkanäle entfernt. So lag er nur da. Nahm einen letzten - ungeheuren befreienden - Atemzug und schloss die Augen ...
»Lebewohl«